Menschenhandel und Trauma-Bonding

Ich habe in zwei Beiträgen bereits explizit über Trauma-Bonding (Trauma-Bindung/traumatische Bindung) im Bereich Menschenhandel geschrieben*, auf der Konferenz der KAS, GGMH und OSCE (ODIHR) am 24.06.2021 habe ich darüber gesprochen (das Video verlinke ich unten) und stelle den Text darüber hier online. Das Thema Trauma-Bonding muss zwingend alle Menschen erreichen, die in diesem Bereich arbeiten, die Gesetze machen, die sich um Betroffene kümmern und vor allem in der Strafverfolgung arbeiten. Hier in Deutschland wird darüber nahezu überhaupt nicht gesprochen. Das ist fatal. Bitte sprecht darüber, klärt darüber auf, nehmt euch diesem Thema an, denn es betrifft so unglaublich viele Betroffene von Menschenhandel. Um ihnen helfen zu können, ist es wichtig, dieses Thema zu verstehen.

Ein sehr wichtiger Schlüsselfaktor, den es bei den nationalen Rechtsrahmen und insbesondere deren Umsetzung zu beachten gilt, ist das Verständnis der verschiedenen Formen des Menschenhandels, der Mechanismen und die Identifizierung von Opfern, was insbesondere auch das Verständnis der individuellen Opfer-Täter-Beziehung bedeutet, die häufig existiert, aber oft nicht gesehen wird. Es gibt verschiedene Formen des Menschenhandels, aber wenn es um den Menschenhandel in Form der Loverboy-Methode geht, „Romeo-Trafficking“, wenn der Menschenhändler der Partner ist, die Familie ist, was sehr oft vorkommt, müssen wir über Trauma-Bonding sprechen.

Was Trauma-Bonding ist und dass es wichtig ist, diesen Mechanismus zu sehen und zu verstehen, damit wir Betroffenen helfen können, diesen Missbrauchskreis zu durchbrechen, wurde auch in einem neuen Bericht der OSZE mit dem Titel „Gender-Sensitive Approaches in Combating in Human Beings“ beschrieben. Dort wird beispielsweise geschrieben:

In Fällen von Menschenhandel kann die Beziehung zwischen dem Opfer und dem Menschenhändler komplex sein. Sie kann Trauma-Bindung, familiäre Bindungen und romantische Beziehungen beinhalten, aber auch Gewalt, Angst und Manipulation. Das Verständnis der Komplexität und Natur der Opfer-Täter-Beziehungen wird es den Strafverfolgungsbehörden auch erleichtern, das Verhalten eines Opfers zu verstehen, das manchmal darauf abzielt, den Menschenhändler auf eigene Kosten zu schützen… Solche Trauma-Bindungen werden verwendet, um eine Umgebung zu schaffen, in der die Opfer nach ihrem Missbrauch irgendwie belohnt und zum Bleiben ermutigt werden, indem die Täter einen Eindruck von Familie und Fürsorge schaffen. Sich dieser Zusammenhänge und der Natur der Trauma-Bindung bewusst zu sein, kann sowohl die Identifizierung der Opfer als auch die strafrechtliche Verfolgung der Menschenhändler erleichtern…Quelle: Gender-Sensitive Approaches in Combating in Human Beings

Meine ISTAC-Kollegin aus Kanada, Timea Nagy, zeigte uns ISTAC-Mitgliedern eine sehr gute Aufklärungs-Webseite, die von der Polizei in Toronto, Kanada, erstellt wurde, auf der sie z.B. Fragen beantworten, die Betroffene (aber auch andere Personen) haben können, und eine dieser Fragen lautet: Was ist eine Trauma-Bindung?

Die Antworten der Polizei auf der Webseite basieren darauf, dass sie 90 % der Aussagen von Betroffenen eingebaut haben, so Timea. Um die Fragen so beantworten zu können, dass sie verständlich sind und anderen Opfern am effektivsten helfen können zu verstehen was mit ihnen passiert, ist die Hilfe derer, die es selbst durchlebt und dann durchschaut haben, sehr wichtig – wichtig auch, um besser an Lösungen zu arbeiten, die diejenigen erreichen können, die sich noch in derselben Situation befinden.

Nachfolgend von mir übersetzte Auszüge von der Polizei-Webseite:

(Human Trafficking Survivors: Home (htsurvivors.to): A Guide for Human Trafficking Survivors):

Was ist eine Trauma-Bindung?

Eine Trauma-Bindung ist eine psychologische Reaktion auf Missbrauch. Sie tritt auf, wenn die missbrauchte Person eine ungesunde Bindung mit der Person eingeht, die sie missbraucht.

Wir wissen, dass es nicht ungewöhnlich ist, dass Betroffene mit dem Versprechen einer Beziehung angelockt werden. Wenn dies geschieht, entwickelt sich die Bindung zwischen dem Opfer und dem Menschenhändler zu einer intensiven Bindung, die oft als Trauma-Bindung bezeichnet wird. Für manche könnte dies die erste Beziehung sein, in der sie Liebe und Zuneigung erfahren. Sobald eine Beziehung hergestellt ist, beginnt der Zyklus des Missbrauchs, der zwischen Liebe und Zuneigung mit Wut und Gewalt wechselt.

Das Opfer wird sich bemühen, alles zu tun, um die Beziehung wieder in die „honeymoon phase“ („Flitterwochen-Phase“) zu bringen, die es am Anfang erlebt hat. Nachdem der Menschenhändler wütend geworden ist, entschuldigt er sich und wird liebevoll und entschuldigt sich für das, was möglicherweise passiert ist. In diesen Momenten kann eine Person hoffen, dass die Dinge wieder so sind, wie sie am Anfang waren, aber dies ist leider nicht der Fall.

Dieser Teufelskreis hält ein Individuum in einem Zustand ständiger Unsicherheit und Hypervigilanz. Das Opfer findet Trost in der Beziehung, denn sie ist zwar missbräuchlich, aber auch vorhersehbar und konsequent, und das Verlassen kann schwierig und überwältigend sein.

Anzeichen einer Trauma-Bindung

Die von Menschenhandel betroffene Person kann:

• Dankbarkeit für kleinste Freundlichkeiten des Menschenhändlers empfinden.

• Fühlen sich dem Menschenhändler gegenüber loyal oder verteidigen ihn.

• Gewalt durch den Menschenhändler wird rationalisiert – die Betroffenen glauben, dass sie das Ausmaß des Missbrauchs kontrollieren können, indem sie versuchen dem Menschenhändler zu gefallen.

• Beschützende Gefühle gegenüber dem Menschenhändler haben.

• Das Gefühl haben, dass der Menschenhändler sie wirklich liebt und sich um sie kümmert.

• Das Gefühl haben, dass nur der Menschenhändler ihnen helfen oder sich um sie kümmern kann.

• Dies könnte das erste Mal sein, dass dem Opfer in seinem Leben Liebe, Zuneigung oder Schutz gezeigt wird. Das Opfer wird den Menschenhändler als jemanden betrachten, der schützend und nicht ausbeuterisch ist.

• Das Opfer wird sich konsequent bemühen, die Beziehung wieder so zu gestalten, wie sie am Anfang (honeymoon phase) war.

Warum habe ich das Gefühl, dass ich nicht gehen kann?

Zu verstehen, wie diese Bindung funktioniert, kann helfen zu erklären, warum Menschen in gewalttätigen oder missbräuchlichen Beziehungen bleiben. Die häufige, aber schädliche Frage: „Warum gehst du nicht einfach?“ berücksichtigt nicht die Komplexität einer Traumabindung und die mentale Neuprogrammierung, die erforderlich ist, um diesen Kreislauf der Trauma-Bindung zu durchbrechen.

Forscher haben eine Reihe von Gründen identifiziert, warum es so schwierig ist, eine Trauma-Bindung zu durchbrechen:

• Opfer fühlen sich möglicherweise nicht als Opfer. In einigen Fällen empfinden sie es aufgrund einer negativen Kindheitserfahrung als „normal“, sexuell ausgebeutet zu werden.

• Der Menschenhändler oder Zuhälter wird manchmal als romantischer Partner angesehen.

• In vielen Fällen hat der Menschenhändler das Opfer einer Gehirnwäsche unterzogen, so dass es glaubt, dass es ihm wirklich wichtig ist und dass es für seine Sicherheit da ist, während Strafverfolgungsbehörden und Autoritätspersonen nicht vertraut werden kann.

• Sie haben möglicherweise Angst zu gehen. Selbst wenn ihnen versichert wurde, dass der Menschenhändler ins Gefängnis kommt, haben sie möglicherweise das Gefühl, dass sie ihm immer noch nicht entkommen können.

• Sie haben möglicherweise das Gefühl, dass ihre Situation in Bezug auf Menschenhandel besser ist, als wenn sie frei wären. Möglicherweise gibt es nicht genug Unterstützung durch die Familie oder die Gemeinschaft, um es alleine zu schaffen.

• Es kann kulturell bedingt sein, dass gefordert wird „nicht darüber zu sprechen“. Sie schämen sich vielleicht zu sehr, um zu gehen und Hilfe anzunehmen, wenn es in ihrer Kultur normal ist, Missbrauch geheim zu halten.

• Viele Betroffene glauben aufgrund ihres geringen Selbstwertgefühls durch Missbrauch in der Kindheit oder durch Ausbeutung im Sexhandel, dass sie es VERDIENEN, missbraucht zu werden. Diese Traumaopfer fühlen, dass sie es nicht
wert sind, Sicherheit, Liebe und gesunde menschliche Beziehungen zu erfahren.

• Viele Betroffene fühlen sich durch ihre Erfahrungen mit Menschenhandel so verändert, dass sie nicht glauben, jemals wieder in die „reale“ Welt hineinpassen zu können. Aufgrund dieser Überzeugung haben sie das Gefühl, dass es keinen Sinn macht, vor ihrem Menschenhändler zu fliehen.“

Quelle: Human Trafficking Survivors: Survivor/Parent Questions (htsurvivors.to)

Warum schreibe und spreche ich in letzter Zeit so viel über Trauma-Bonding? Ich spreche darüber, weil ich davon betroffen war (auf mich passen nahezu alle Punkte, die oben aufgelistet worden sind) und weil ein Großteil des Menschenhandels, den ich in Deutschland gesehen habe, Menschenhandel durch die eigene Familie und durch Partner war, bei dem diese Trauma-Bindung jeden Tag präsent war und letztlich der Hauptgrund dafür war, dass die Opfer der Ausbeutung nicht entkommen konnten und sich niemandem geöffnet haben. 

Diese Frauen wollen diesem Missbrauchskreis entkommen, sie wollen gehen und dem Menschenhändler entkommen, aber sie können nicht. Sie sind in oft unsichtbaren Ketten eingeschlossen. Dass sie nicht gehen können, heißt nicht, dass sie bleiben wollen. Es bedeutet, dass sie zu schwach sind, um zu gehen und deswegen Hilfe benötigen. Um wirklich helfen zu können, braucht es Verständnis. Und das bedeutet auch, sich dieser unsichtbaren Ketten bewusst zu sein und vor allem: wie man sie durchbrechen kann.

Wenn ich also auf meine Situation des Menschenhandels (Loverboy-Methode) zurückblicke, hätte es mir sehr geholfen, wenn es Menschen/Behörden/Gesetze/Polizei/Richter/Staatsanwälte gegeben hätte, die alle Mechanismen des Menschenhandels inkl. Trauma-Bonding (und es gibt noch viele mehr) verstanden und Fähigkeiten in ihrer Hand gehabt hätten, mir zu helfen den Kreislauf dieser traumatischen Bindung zu durchbrechen und meinen Menschenhändler zur Rechenschaft zu ziehen. In Deutschland habe ich das Wort Trauma-Bonding von Autoritäten eigentlich noch nie gehört, wenn es um Menschenhandel geht, aber es ist wichtig, es zu benennen und darüber zu sprechen, weil so viele Opfer von Menschenhandel davon betroffen sind.

Wir müssen die Augen diesbezüglich offenhalten, wenn wir Gesetze machen, diese umsetzen und wenn wir mit Opfern in Kontakt kommen.

Bitte klärt darüber auf.

Im nachfolgend verlinkten Video, das einen Teil der kürzlich stattgefundenen Fachtagung von der Konrad Adenauer Stiftung, Gemeinsam gegen Menschenhandel und der OSCE (ODIHR) wiedergibt, spreche ich u.a. über das Thema Trauma-Bonding ab Minute 46:20 (in englischer Sprache). Ich erstelle nun auch einen eigenen Menüpunkt „Videos„, den ich ausbauen werde, sowie einen extra Menüpunkt „Trauma-Bonding„, denn ich wünsche mir sehr, dass diesem vernachlässigten Thema in Zukunft viel Aufmerksamkeit entgegen gebracht wird.

*Trauma Bonding – ein Text über Täterbindungen speziell bei der Loverboy-Methode | (sandranorak.com)

Bericht der OSZE – Komplexe Täterbindungen im Bereich Menschenhandel verstehen | (sandranorak.com)

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